Als ihr Name am Dienstagabend hinter der „1.“ auf der Videowand erschien, sank Gina Lückenkemper auf der roten Bahn des Münchner Olympiastadions auf die Knie und ließ den Tränen des Glücks freien Lauf, während die rund 40.000 Zuschauer kein Halten mehr kannten. Wenige Augenblicke zuvor war die Sprinterin vom SCC Berlin in 10,99 Sekunden zum EM-Titel über 100 Meter gestürmt. Sie hatte dabei auf den letzten Metern alles aus ihrem Körper herausgeholt, sich ins Ziel geworfen und war am Ende die Winzigkeit von fünf Tausendstelsekunden (oder umgerechnet etwa fünf Zentimeter) vor der Schweizer Hallen-Weltmeisterin Mujinga Kambundji im Ziel. Die Auswertung ergab exakt eine Zeit von 10,984 zu 10,989 Sekunden zugunsten der Deutschen Meisterin. Das ist der kleinste Vorsprung in einem 100-Meter-Finale der Frauen in der EM-Geschichte. Mitfavoritin Daryll Neita (Großbritannien), die im Halbfinale noch mit 10,95 Sekunden die schnellste Zeit gelaufen war, folgte exakt eine Hundertstel später auf dem Bronzerang.
Von der Ehrenrunde ins Krankenhaus

Gina Lückenkemper hatte im Ziel eine so extreme Körpervorlage (die Brust wird bei der Ermittlung der Zeit gewertet), dass sie strauchelte und stürzte. Neben einigen Schürfwunden zog sie sich dabei mehrere tiefere Wunden am linken Knie zu. Wahrscheinlich touchierte sie ihr Bein beim Fallen mit ihren eigenen Spikes-Nägeln. So endete die Gold-Nacht der Sensations-Europameisterin im Krankenhaus. Die Wunde am Knie musste mit mehreren Stichen genäht werden. Danach durfte Gina Lückenkemper die Klinik aber mitten in der Nacht wieder verlassen und ins Hotel zurückfahren, wo die deutsche Mannschaft ihre Team-Kapitänin jubelnd empfing.
Zuvor hatte die Sprint-Königin es sich trotz der Verletzung nicht nehmen lassen, eine emotionale Ehrenrunde im Olympiastadion zu drehen und sich von den Fans an einem rauschenden Leichtathletik-Abend feiern zu lassen. „Das Stadion ist heute der absolute Wahnsinn. Ich bin euch so unfassbar dankbar. Ich merke gerade gar nichts, ich habe so viel Adrenalin im Körper“, jubelte Gina Lückenkemper nach ihrem Gold-Coup am Stadion-Mikrofon, während ihre Eltern sich auf der Tribüne jubelnd in den Armen lagen. Die verdiente Goldmedaille erhält Gina Lückenkemper am Mittwochabend bei der Siegerehrung im Olympiastadion.
Erster großer Titel für Gina Lückenkemper
Es ist der erste große Titel für die deutsche Ausnahmesprinterin nach dreimal EM-Bronze 2016 und 2018 (200 m und 4×100 m), EM-Silber 2018 (100 m) und WM-Bronze 2022 (4×100 m). Zuletzt stand mit Verena Sailer 2010 in Barcelona eine deutsche 100-Meter-Sprinterin ganz oben auf dem EM-Podest. Titelverteidigerin und Top-Favoritin Dina Asher-Smith (Großbritannien) konnte in München nicht ins Rennen um die Medaillen eingreifen. Die 10,83-Sekunden-Läuferin und WM-Dritte von Eugene über 200 Meter hatte sich eben bei der WM im Staffelrennen leicht verletzt. Sie probierte es zwar in München und lief mit 11,15 Sekunden ein ordentliches Halbfinale, im Endlauf kam sie allerdings nicht ins Rennen und trudelte abgeschlagen als Letzte ins Ziel.
Auch Gina Lückenkemper hatte vor dem Sprint-Showdown in München mit ihrem Körper zu kämpfen. „Meine Oberschenkelrückseite hat Probleme gemacht, darum war ich im Halbfinale auch stark getaped. Ich hatte schon überlegt, auf einen Start im Finale zu verzichten. Doch mein Trainer hat auf dem Warmlaufplatz die richtigen Worte gefunden“, berichtete Gina Lückenkemper. Teile der Trainingsgruppe ihres Coaches Lance Brauman in Florida verbringt einige Wochen in Europa, um nach der EM bei den großen Meetings zu starten.
Lance Brauman findet die richtigen Worte

So stand nicht nur Lance Brauman seinem Ausnahme-Schützling im Olympiastadion zur Seite, sondern auch 200-Weltmeister Noah Lyles (USA) feuerte von der Tribüne aus an. Bei der WM in Eugene waren 13 Athletinnen und Athleten aus zehn Nationen aus der Trainingsgruppe von Lance Brauman am Start, unter anderem auch 400-Meter-Weltmeisterin Shaunae Miller-Uibo (Bahamas). Ein eindrucksvoller Beweis für die Internationalität und Individualität der Leichtathletik.
Nach der Aufmunterung ihres Coaches in München zeigte Gina Lückenkemper vor dem großen Finale eine Mischung aus Entspanntheit und Vorfreude. Schon bei der Vorstellung im Spotlight des sonst abgedunkelten Olympiastadions lächelte sie in die Kameras, um direkt vor dem Start vollkommen fokussiert zu sein. Genau die ersten Meter erwischte sie im Finale gut, schloss im letzten Renndrittel zu der scheinbar enteilten Mujinga Kambundji auf und schob sich auf dem Zielstrich noch an ihr vorbei. Was folgte war Freude pur. Emotionen wurden sichtbar, die nur der Sport bei besonderen Anlässen hervorbringt. Viele Tränen und einige Tropfen Blut inklusive.
RRU
Herzlichen Glückwunsch an Gina Lückenkemper und an Burg Wächter
Tolles Tram mit tollen Sportlern.
Rüdiger